Predigten von Bischof Dr. Georg Bätzing: Ostersonntag: Wer Ostern feiert und dem Auferstandenen nicht innerlich begegnet, der hat es verpasst. +++ Osternacht +++ Karfreitag +++ Gründonnerstag

Portraitbild Bischof Dr. Georg Bätzing. Quelle: Bistum Limburg
Portraitbild Bischof Dr. Georg Bätzing. Quelle: Bistum Limburg

Ostersonntag: Wer Ostern feiert und dem Auferstandenen nicht innerlich begegnet, der hat es verpasst.

Wer Ostern feiert und dem Auferstandenen nicht innerlich begegnet, der hat es verpasst. Foto: Peter Gaß dbk. WIESBADEN/BONN/LIMBURG. 4. April 2021 – Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, am Ostersonntag. „Wer Ostern feiert und dem Auferstandenen nicht innerlich begegnet, der hat es verpasst.“

Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing am Ostersonntag

Eucharistiefeier im Hohen Dom zu Limburg

Lesungen: Apg 10, 1 Kor 5
Evangelium: Joh 20,1–18

Mal ehrlich, liebe Schwestern und Brüder, wenn zu Ihnen jemand käme und sagte: „Ich habe den Herrn gesehen“, wie würden Sie reagieren? Ich bin mir sicher, ich würde blitzschnell fragen: „Und, wie war er? Wie sieht er aus? Erzähle!“; und das nicht aus purer Neugier, sondern aus brennendem Interesse. Von dieser ganz menschlichen Reaktion ist in den Ostererzählungen kaum etwas zu spüren. Erst tausend Jahre später wagt einer auszusprechen, was doch auf der Hand liegt: „Maria, sag uns, was hast du unterwegs gesehen?“ Wipo von Burgund (* vor 1000, + nach 1046), der die ersten Salierkaiser als Hofkaplan begleitet und als Geschichtsschreiber den idealen Herrscher nach dem Vorbild Christi porträtiert hat, ist selbstverständlich auch daran interessiert, sich ein Bild des Auferstandenen machen zu können. Aber er hält sich bei der Abfassung der Ostersequenz treu an die biblischen Urkunden: das offene Grab, Engel, die Leinenbinden und „Christus, von Gottes Glanz umflossen“ (Victimae paschali laudes, GL 320). Mehr, als Maria nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums zu erkennen gibt, nennt uns auch der Dichter nicht. Was gäbe ich darum, Jesus nur ein einziges Mal sehen zu können!

Dabei bin ich mir sicher, jeder von uns hat seine Vorstellung von Jesus, wie er mir vor Augen steht, welche Gesichtszüge ihn prägen. Spontan habe ich neulich noch auf ein Jesusbild in einer Zeitschrift reagiert: „Nein, so ist er nicht.“ Für mich rückt der erhabene Blick einer Christusikone nahe an meine Vorstellung vom auferstandenen Herrn heran. Er vermittelt Ruhe und schenkt Geborgenheit. Aber auch der leidende Christus am Kreuz, wie hier im Limburger Dom die Nachbildung des Walsdorfer Kruzifixes aus dem 13. Jahrhundert, ist mir wichtig. Immer wieder schaue ich in sein Gesicht; das Leid der Menschen hat ihn gezeichnet. Oder wie den guten Hirten aus der Priscilla-Katakombe in Rom (3. Jahrhundert), so sehe ich Jesus vor mir in seiner Fürsorge um uns. Wenn ich ehrlich bin, dann stehen diese Bilder aber nicht am Anfang, sondern sie folgen meinen Erfahrungen mit Jesus nach. Sie drücken meinen Glauben an ihn aus, und sie verändern sich. Es sind meine inneren Bilder, die mich aber gewiss mit vielen von Ihnen verbinden.

Über die äußere Gestalt des auferstandenen Christus hüllen sich die Ostererzählungen in respektvolles Schweigen. Während die Osterzeugen davon sprechen, dass sie den Herrn gesehen haben, heißt es von Jesus nur: Er kam hinzu – er trat in ihre Mitte – er ließ sich sehen – er entzog sich ihren Blicken – er erschien – oder: Gott hat ihn erscheinen lassen. Dahinter steht die Glaubenseinsicht, dass die Auferstehung nicht einfach eine Rückkehr des irdischen Jesus ist, sondern eine tiefgehende Verwandlung. Er gehört ganz der Welt und dem Wesen Gottes zu, und von Gott macht man sich kein Bild. Den Gottessohn Jesus können wir uns als Mensch von seiner Geburt bis zu seinem Begräbnis vorstellen, wir dürfen ihn abbilden. Aber der Auferstandene lässt das im Grunde nicht mehr zu. Kein Bild genügt mehr. Denn jede künstlerische Darstellung verstellt mehr als sie anschaulich macht. Darum ist auch der letzte Satz des Osterevangeliums bewusst so formuliert: „Ich habe den Herrn gesehen“, bezeugt Maria von Magdala vor den Jüngern. „Und sie berichtete, was er ihr gesagt hatte“ (Joh 20,18).

Denn jetzt zählt allein, wie Jesus mit seinen Freunden in Kontakt tritt. Er ruft sie beim Namen. Und das bedeutet biblisch: Ich kenne dich von Grund auf, und du kennst mich. Stets beginnt ja Vertrautheit damit, einander beim Namen zu nennen. Die Stimme macht dabei viel aus. Sie übermittelt Gefühle, Stimmungen, Absichten. Eltern betonen beispielsweise den Namen ihrer Kinder je nach Situation ganz unterschiedlich. Die Stimme, die meinen Namen ruft, sagt oft genug. Der Auferstandene spricht, und was er zu sagen hat, das weckt in den Enttäuschten die Lebensgeister auf. Denn sie verspüren Mut. „Geh und verkünde“, das wirkt wie ein Kompass und macht Sinn. Vertieft wird das gegenseitige Vertrauen, indem man miteinander isst und trinkt; da beginnen die Herzen zu brennen wie bei frisch Verliebten, und Frieden stellt sich ein. Und schließlich die Wunden: Wenn ich bereit bin, einem anderen meine Blöße, meine Verletzlichkeit, meine Wunden zu zeigen, dann vertraue ich ohne Vorbehalt. Der Auferstandene tut es, an seinen Wunden wird er ganz und gar erkannt. Übrigens erzählt man vom Philosophen Blaise Pascal (1623 – 1662), er habe begonnen, in seinem Haus einen Armen und Kranken zu pflegen, als ihm wegen Zweifeln an seiner Rechtgläubigkeit zeitweise der Empfang der Eucharistie verweigert wurde. Auf diese Weise wollte er den Leib Christi dennoch empfangen. Was für eine gute Inspiration, die sich kreativ angepasst übertragen lässt auf heute, wo viele ja immer noch nicht am Gottesdienst teilnehmen und die heilige Kommunion empfangen können (vgl. Tomáš Halík, Die Zeit der leeren Kirchen. Von der Krise zur Vertiefung des Glaubens, Freiburg-Basel-Wien 2021, 149 f.).

Ostern, darin sind sich alle Evangelien einig, ist nicht wie der Gang in ein Museum, wo man ein Kunstwerk bestaunt. Es ist auch nicht wie das alljährliche Neujahrskonzert, das wir bewegt anhören, um anschließend essen zu gehen. Wer Ostern feiert und dem Auferstandenen nicht innerlich begegnet, der hat es verpasst. An die Auferstehung zu glauben, heißt für mich, in eine Beziehung mit Jesus einzutreten. Das hat mein Leben verändert. Durch ihn hat es an Tiefe gewonnen, hat Glanz und den langen Atem der Hoffnung bekommen. Jesus ist für mich das entscheidende Korrektiv, um mich nicht zu verirren; er ist Wegbegleiter und Freund und das große Versprechen, dass mein Leben gut ausgeht. Darum ist es für mich nicht nur eine Frage der Gewichtung, sondern tiefe Überzeugung: Ostern ist das höchste Fest, der Glaube an die Auferstehung das orientierende Fundament unseres Christseins.

Und die Kirche ist der weite Raum, in dem sich diese Beziehung zwischen Menschen und dem lebendigen Christus ereignen kann. Dazu hat Jesus die Kirche gegründet. Darum liebe ich sie und verdanke ihr so viel. Darum leide ich an der Kirche, wenn sie durch Skandale gläubige Menschen ins Wanken bringt oder durch erstarrte Strukturen und mangelnde Veränderungsbereitschaft vielen den Zugang zum Glauben blockiert. Es schmerzt mich sehr, wenn mir ein junger Mann zur Begründung für seinen Kirchenaustritt schreibt: „Ich bedaure das alles zutiefst. Aber, was man nicht mehr in sich spürt, was man nicht verändern kann, und was selbst nicht in der Lage ist umzukehren, das sollte man verlassen.“ Ja, das kann ich nachvollziehen. Und ich bedaure es, dass wir als Kirche ein solches Bild abgeben. Mit Ostern und all seiner Dynamik, die nur dem einen Ziel dient, dass Menschen dem lebendigen Herrn begegnen und an ihn glauben, hat das wahrlich wenig zu tun. Und deshalb, liebe Schwestern und Brüder, lasst uns Ostern feiern und vertrauen, dass Jesus in dieser Kirche lebt und wirkt und uns den Mut zur Erneuerung schenkt. Amen. Halleluja.

Osternacht: „Auferstehung – Der beste Einfall Gottes“

Auferstehung – Der beste Einfall Gottes. Foto: Peter Gaß dbk. WIESBADEN/BONN/LIMBURG. 4. April 2021 – Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, in der Osternacht. „Auferstehung – Der beste Einfall Gottes“

Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing in der Osternacht

Eucharistiefeier im Hohen Dom zu Limburg

Lesungen: Gen 22, Ex 14–15, Jes 54, Röm 6
Evangelium: Mk 16,1–7

Jesus lebt! Was für ein Glück! Ja, was für ein Wunder! Tatsächlich ist die Auferstehung Jesu das größte Wunder aller Zeiten, liebe Schwestern und Brüder. Denn niemand konnte damit rechnen. Nach menschlichem Ermessen war das Schicksal Jesu von Nazaret mit seinem letzten Atemzug besiegelt. Tot ist tot. Alles darüber hinaus wäre wahrhaftig ein Wunder. Und Wundern gegenüber bleiben wir skeptisch. „Es ist noch keiner zurückgekommen“, habe ich oft trauernde Angehörige sagen hören, und wenn ich dann entgegne: „Doch, Jesus lebt!“, dann schaue ich ebenso oft in zweifelnde Gesichter.

Wir dürfen es uns mit Ostern auch nicht zu leicht machen. Was wäre das für ein Wunder, wenn es offensichtlich wäre und niemanden mehr zum Zweifel oder Widerspruch reizte; wenn alle Welt glauben könnte, was für uns die Glaubenssache schlechthin ist? Und wir schwanken doch selbst auch oft hin und her. Darum ist es gut, dass wir heute Abend so lange im Halbdunkel geblieben sind. Mit weniger Sinneseindrücken war vielleicht die Aufmerksamkeit größer, hören und verstehen zu können, wovon die Lesungen des Alten Testamentes sprechen. Abrahams Opfer, der Ausbruch in die Freiheit und eine glänzende Zukunft für Jerusalem: Das alles sind höchst prekäre Situationen, an die sich das Gottesvolk stets erinnert. Alles stand auf der Kippe. Wenig deutete auf einen guten Ausgang hin. Jerusalem fiel der babylonischen Großmacht zum Opfer und ging in Trümmern unter. Wer will da an eine große Zukunft denken? Eine kleine Gruppe von Arbeitssklaven wagt den Ausbruch aus Ägypten. Wer glaubt angesichts der militärischen Stärke des Pharao ernsthaft an ein Entkommen? Und Abrahams Gottvertrauen steht in der Erprobung. Einen höheren Preis kann niemand zahlen, als sein Ein und Alles herzugeben. Nicht auszudenken, wenn da der Himmel nicht eingegriffen hätte.

Immer kommt die entscheidende Wende völlig überraschend. Es sind hoch spannende Episoden, und man reibt sich die Augen. Das sind nicht nur exzellente Stücke der Weltliteratur, glänzende Erzählungen, in denen sich religionsgeschichtliche Entwicklungen spiegeln; es sind Schlüsselerfahrungen gläubiger Menschen mit Gott. Ohne das Eingreifen Gottes wären diese Geschichten aussichtslos geblieben. Diese Glaubenserfahrung bestärkt Israel in der Gewissheit, dass Gott die Geschichte lenkt, dass er mitgeht, einspringt, die Not wendet und vor dem sicheren Tod rettet. Wir tun gut daran, uns Jahr für Jahr in der Osternacht auf diese Weise zu vergewissern. Es ist nicht unvernünftig, Ostern zu feiern und an das Wunder der Auferstehung zu glauben. Denn schon oft hat sich Gott als Lebensretter erwiesen.

Und doch ist die Auferstehung Jesu nicht bloß die logische Schlussfolgerung aus vielen Erfahrungen zuvor. Dass der Gekreuzigte lebt, lässt sich nicht herleiten wie eine mathematische Gleichung. Man muss schon fest im Glauben verwurzelt sein, und selbst das reicht nicht aus. Denn die Hürden des Verstehens sind hoch und die aufgeklärten Gegenargumente gewichtig. Und es war noch nie anders: Der Stein vor dem Grab Jesu „war sehr groß“ (Mk 16,4). Wer könnte ihn uns wegwälzen?

Ostern ist ein genialer Einfall Gottes, der beste, seitdem er die Welt geschaffen hat. Denn in der Auferweckung seines geliebten Sohnes macht Gott deutlich, wie sehr er am Leben jeder und jedes Einzelnen hängt, die er ins Dasein gerufen hat: Er behütet das Leben seiner Frommen und überlässt uns nicht dem Tod, heißt es in Psalm 16. Ostern ist Gottes unübertroffene Weise, seine Menschenfreundlichkeit zu zeigen. Und es macht deutlich, wie er gedenkt, den Opfern der Geschichte gegenüber dem Unrecht, das ihnen widerfahren ist, zu ihrem Recht zu verhelfen; die jäh aus dem Leben Weggerafften – auch die zigtausenden Opfer der Pandemie – sollen auf ewig Leben genießen.

Aber es braucht auch – in einer weiteren Initiative – den „Einfall Gottes“ in unser Herz und in unseren Geist, um an das Wunder der Auferstehung glauben zu können. Es ist, wie wenn ich lange nach der Lösung eines schweren Problems suche und sie beim besten Willen nicht finden kann; doch plötzlich, unerwartet eine Idee, der Durchbruch, ein Einfall, der Wege auftut. So ist es mit dem Glauben an die Auferstehung: Er ist nicht selbstverständlich – auch nicht für uns Getaufte und Gefirmte. Er ist eine große, unverdiente Gnade: der geniale Einfall Gottes für mein Leben.

Was das heißt, davon spricht Paulus im Römerbrief. „Wir“, sagt er, „wir, die wir auf Christus Jesus getauft wurden […] [sollen] in der Wirklichkeit des neuen Lebens wandeln“ (Röm 6,3 f.). Ich deute das so: Wir sollen leben. Und das Leben ist, wie es ist: mal zauberhaft schön, mal einfach nur langweilig, mal widerspenstig, mal aufregend und spannend, mal mühsam und schmerzvoll. Auch uns wird nichts einfach geschenkt. Vielen bleiben Leid, Konflikte und Lebenskrisen nicht erspart. „Der Christ“, so hat Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945) schon gewusst, „hat nicht wie die Gläubigen der Erlösungsmythen aus den irdischen Aufgaben und Schwierigkeiten immer noch eine letzte Ausflucht ins Ewige, sondern er muss das irdische Leben wie Christus ganz auskosten, und nur indem er das tut, ist der Gekreuzigte und Auferstandene bei ihm“. Aber das, liebe Schwestern und Brüder, entscheidet für mich alles. Ich bin nicht allein, ich gehe nicht schutzlos, ich lebe behütet und geführt, denn der Herr ist bei mir. Das hoffe und glaube ich fest, bis ich ihn einmal leibhaft vor meinen Augen sehe und seine Hand mich ergreift.

Jesus lebt und wir mit ihm! Was für ein Glück! Ja, was für ein Wunder! Amen. Halleluja.

04.04.2021; Deutsche Bischofskonferenz; in: Pressemitteilung Nr. 051 von Samstag, 03.04.2021, mit dem Titel „Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing in der Osternacht Eucharistiefeier im Hohen Dom zu Limburg“; https://www.dbk.de/presse/aktuelles/meldung/predigt-von-bischof-dr-georg-baetzing-in-der-osternacht-1
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Karfreitag: „hinaus, heraus, hinweg“

inaus, heraus, hinweg. Foto: Peter Gaß dbk. WIESBADEN/BONN/LIMBURG. 4. April 2021 – Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, der Karfreitagsliturgie. „hinaus, heraus, hinweg“

Eucharistiefeier im Hohen Dom zu Limburg

Lesungen: Jes 52–53, Hebr 4–5
Evangelium: Joh 18–19

„hinaus, heraus, hinweg“: elfmal tönt es so aus der Johannespassion. Schon sprachlich ist die Sache eindeutig. Der Störenfried muss weg, der Gesetzesbrecher hart bestraft werden. Der selbsternannte König könnte mit seiner wachsenden Anhängerschaft in politisch unruhigen Zeiten zur Gefahr werden. Am schlimmsten aber ist die Gotteslästerung. Niemand kritisiert den Tempeldienst ungestraft, und keiner erhebt sich über die Sabbatordnung. Den Tempel hat er „das Haus meines Vaters“ (Joh 2,16) genannt und behauptet, der Sabbat sei für den Menschen gemacht, nicht umgekehrt, deshalb sei der Menschensohn Herr auch über den Sabbat (vgl. Mk 2,27 f.). Was für eine Anmaßung. Wo kämen wir denn hin? Hinweg, hinaus mit ihm vor die Tore der Stadt. Da soll er verrecken. Sie rechnen ihn „unter die Abtrünnigen“, schneiden ihn ab „vom Land der Lebenden“, begraben ihn „bei den Frevlern“. Genau so hat der Prophet Jesaja das Schicksal des Gottesknechts beschrieben (vgl. Jes 53): „Einer, vor dem man das Gesicht verhüllt.“ Sie machen es wie Kinder, die sich in höchster Angst die Hände vors Gesicht halten in der irrigen Meinung, damit sei die Gefahr gebannt. Dabei hätten die heiligen Schriften durchaus eine Deutung erlaubt, den Messias Jesus mit seinem Anspruch an sich heranzulassen. Dann hätten sie miteinander das Verständnis ihres Glaubens vertieft und die religiöse Praxis reformiert. Stattdessen schaffen sie ihn sich aus den Augen. Veränderung war nicht gewollt. Das (Pessach-)Fest soll ungestört beginnen. Wir hätten es vermutlich nicht anders gemacht.

Psychologisch ist der Vorgang klar. Hier findet kollektive Verdrängung auf dem Rücken eines armen Sündenbockes statt. Als psychischer Schutzmechanismus ist Verdrängung eine durchaus sinnvolle Erfindung der Natur. Individuell bezeichnet man damit nämlich die Fähigkeit, belastende, unangenehme, schmerzliche Erinnerungen und Erlebnisse aus dem Bewusstsein zu verbannen, weil es sich mit allzu viel Gefühlsballast beschwerlich lebt. Mit gutem Grund verdrängen wir Menschen, was das Zeug hält, um gesund zu bleiben. Doch es gibt auch die dunkle Seite des Verdrängens, wenn nämlich ausgeblendete und unterdrückte traumatische Erfahrungen im Untergrund der Seele arbeiten und krank machen. Ängste, Blockaden und Depressionen haben nicht selten ihre Ursache darin. Es braucht das rechte Maß von Erinnern und Vergessen, Festhalten und Loslassen. Das gilt für uns Einzelne wie auch für die Gesellschaft.

Wenige Tage nach den ersten vorsichtigen Lockerungen im Lockdown Anfang Mai des Jahres 2020 wies der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar (*1959: Phase zwei, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.), 2. Mai 2020, 9) weitsichtig auf den hohen Preis eines kollektiven Verdrängens hin. Wir wollen keine Wissenschaftler und Politiker, die weiter nur schlechte Nachrichten bringen und unsere bürgerlichen Freiheiten einschränken. Wir „wünschen uns Erlöser, die uns von der Last dieser ansteckenden Geißel befreien. […] Wir werden unser Land wieder öffnen und werden verdrängen, dass diese Freiheit einen Preis hat. Wir werden uns abwenden von denjenigen, die uns die Rechnung hinhalten, und wir werden uns einigen, dass es immer auch andere Zahlen und andere Studien gibt“. Die Quittung dafür haben wir mit einer massiven zweiten Welle der Pandemie bekommen. Und unsere Familien, die Senioren, Geschäftsleute und Kleinunternehmer, KiTa-Kinder und Schüler, Pfleger und Ärzte und viele mehr, vor allem aber die beinahe 80.000 Verstorbenen haben den hohen Preis bezahlt. Wegdrücken löst echte Probleme nicht. Nach aller Erfahrung kommen sie mit Wucht zurück.

Das gilt auch für andere Schreckensmeldungen, die kaum einmal den Appetit verderben, wenn wir bei einer Tasse Tee, einem Bier und dem Abendbrot Nachrichten schauen. Wir haben gelernt, sie zu verdrängen, die menschenverachtenden Kriege, die über Jahre wüten und Hungerkatastrophen und Vertreibung im Gefolge haben; die Geflüchteten, die draußen vor den Toren der Europäischen Union abgewehrt werden und ihr Dasein in menschenunwürdigen Zuständen fristen. Seit vielen Jahren verdrängen wir die klaren Anzeichen einer Klimakatastrophe, die kommenden Generationen ihre Lebenschancen mindert. Die Schattenseiten des Fortschritts, des Liberalismus und des hochgeschätzten Gutes individueller Selbstbestimmung blenden wir aus, denn wer übernimmt die Verantwortung für die klaffende Schere zwischen Armen und Reichen, zwischen denen, die in gesellschaftlichen Prozessen begünstigt sind, und solchen, die unbeteiligt am Rande stehen? Wer will die absehbaren Folgen tragen, wenn eine auf die Spitze getriebene Autonomie das Recht auf Unterstützung beim Suizid einfordert und absehbar der Druck auf ältere und kranke Menschen wächst, sich einem unausgesprochenen Diktat zu beugen. Und wer spricht vom Lebensrecht der ungeborenen Kinder, denen die Tür zum Leben durch Abtreibung endgültig verschlossen bleibt? Wir verdrängen, was das Zeug hält, aber die Rechnung zahlen allzu oft andere.

Für sie alle hängt Jesus stellvertretend am Kreuz. Nach menschlichen Maßstäben ist er der große Sündenbock, in den Augen Gottes aber der leidende Gerechte. Für uns wirkt das Kreuz draußen vor den Toren der Stadt wie ein Spiegel. Wer hineinzuschauen wagt, erkennt die heillosen Zustände, das Elend und Unrecht, die ausgeblendeten Seiten der Wirklichkeit einer Welt, in der wir leben und Verantwortung tragen und aneinander schuldig werden. Auch wir können versuchen, die Augen zu schließen, um die Konsequenzen unseres Lebensstils, unserer Ansprüche und unserer Gleichgültigkeit Gott und anderen Menschen gegenüber auszublenden. Es wird nichts ändern. Denn verdrängte Probleme schlagen oft mit Wucht zurück wie ein Bumerang.

„Am Rande der Welt situiert zu sein, ist keine günstige Ausgangslage für einen, der vorhat, die Welt neu zu erschaffen“, hat die existenzialistische Philosophin Simone de Beauvoir (1908 – 1986) geschrieben. Dabei hat sie – streng katholisch erzogen, aber ihren Glauben bereits als Jugendliche verloren – womöglich auch an Jesus und sein Schicksal gedacht. Nein, vor den Toren der Stadt auf dem Hügel Golgota am Kreuz zu enden, ist keine günstige Ausgangslage für einen, der vorhat, die Welt neu zu schaffen. Es sei denn, er wird vom Rand in die Mitte gerückt, zugelassen mit seinem irritierenden Anspruch, Zeuge der Wahrheit und König einer neuen Welt zu sein. Gott hat es längst getan: „Siehe, mein Knecht wird Erfolg haben“, heißt es bei Jesaja (Jes 52,13). Und: Der Herr hat Gefallen an ihm, er wird „Nachkommen sehen und lange leben“ (Jes 53,10). Jeder Karfreitag mit einem so eindrucksvoll schlichten Gottesdienst bietet Gelegenheit, den am Kreuz in unser Leben einzulassen. Dazu braucht es Mut zur Umkehr, herzliche Liebe zu Jesus und das Vertrauen, dass wir durch seine Wunden heil werden. Jeder Schritt hat seinen Sinn, wenn wir bei der Kreuzverehrung auf Jesus zugehen: Wir lassen ihn ein – in unser Leben, in unsere Welt.

04.04.2021; Deutsche Bischofskonferenz; in: Pressemitteilung Nr. 050 von Freitag, 02.04.2021, mit dem Titel „Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing in der Karfreitagsliturgie. Eucharistiefeier im Hohen Dom zu Limburg“; hhttps://www.dbk.de/presse/aktuelles/meldung/predigt-von-bischof-dr-georg-baetzing-vorsitzender-der-deutschen-bischofskonferenz-in-der-karfreitagsliturgie-im-hohen-dom-zu-limburg
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Gründonnerstag: „Heute feiern wir Stiftungsfest“

Heute feiern wir Stiftungsfest Foto: Peter Gaß dbk. WIESBADEN/BONN/LIMBURG. 3. April 2021 – Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, zum Gründonnerstag. „Heute feiern wir Stiftungsfest“

Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing zum Gründonnerstag

Eucharistiefeier im Hohen Dom zu Limburg

Lesungen: Ex 12, 1 Kor 11
Evangelium: Joh 13,1–15

Liebe Schwestern und Brüder,

wer eine Stiftung errichtet, trennt sich für immer von seinem Vermögen. Trotzdem erleben wir in den letzten Jahren einen regelrechten Boom im Stiftungswesen. Allein im Jahr 2019 kamen hierzulande 576 neue rechtsfähige Stiftungen dazu; an die 24.000 werden es jetzt sein, nicht mitgezählt die etwa 20.000, die zusätzlich in Dachstiftungen zusammengeführt sind. Ein enormes Kapital steckt dahinter, und die Erträge kommen zu 93 Prozent gemeinnützigen Zwecken zugute. Die einen unterstützen Vereine, Sportverbände, Museen, die Ortsverschönerung. Andere engagieren sich für Umweltschutz, medizinische Versorgung, Schulen und wissenschaftliche Ausbildung in ärmeren Ländern. Wieder andere fördern den Erhalt von Kirchen und Kapellen, Orgelbau, die kirchliche Jugendarbeit, caritative Ziele und Inklusionsprojekte. Das sind die vornehmlichen Anliegen der Stifter. Und es wundert nicht, dass 42 Prozent der gemeinnützigen Stiftungen gerade in der Zeit der Pandemie die Ärmel hochkrempeln und anderen in der Krise unter die Arme greifen.

Hier wird viel Gutes getan. Das ist vermutlich auch eine der entscheidenden Motivationen von Menschen, die einen erheblichen Teil ihres Vermögens dafür einsetzen. Viele stiften aus Dankbarkeit, weil es ihnen im Leben gut gegangen ist, weil sie wirtschaftlich abgesichert sind oder großzügig geerbt haben. Sie möchten sich langfristig engagieren, wollen die Zukunft mitgestalten – noch über ihren eigenen Tod hinaus. Sie haben die im Blick, die keineswegs privilegiert leben und Hilfe zur Selbsthilfe brauchen. Und nicht zuletzt möchten Stifter, dass ihre Namen in guter Erinnerung bleiben. In den Stiftungen „arbeitet“ nicht nur das Kapital, wie man so schön sagt. Rings um sinnvolle Stiftungszwecke sammeln sich andere als Spender und Zustifter oder einfach als Freiwillige, die sich mit Verstand und Herz und Hand für ein Anliegen einsetzen. So ziehen Stiftungen weite Kreise und erwerben sich einen guten Ruf. Aber immer beginnt es mit dem Willen und der Entscheidung einzelner Menschen – und mit einem echten Verzicht. Denn wer eine Stiftung errichtet, trennt sich für immer von seinem Vermögen.

Heute, liebe Schwestern und Brüder, feiern wir Stiftungsfest. Und die Urkunde dazu wurde soeben verlesen. Paulus hat sie notariell aufgesetzt und im 1. Korintherbrief festgehalten: „Ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch dann überliefert habe“ (1 Kor 11,23). Dann berichtet er, wie es damals war: Brot – Jesu Leib. Der Kelch – Neuer Bund in Jesu Blut. Sooft wir von diesem Brot essen und aus dem Kelch trinken, verkünden wir den Tod des Herrn, bis er kommt. So wurde die Stiftung gegründet. Das Tagesgebet nennt sie „Opfer des Neuen und Ewigen Bundes“ und „Gastmahl seiner Liebe“. Kurz vor diesem Mahl hat Jesus mit der Demutsübung der Fußwaschung auch ihre Arbeitsweise verdeutlicht: Er liebte die Seinen bis zur Vollendung. Er gab uns ein Beispiel, damit wir handeln, wie er an uns.

im schweiße seines angesichts
essen wir sein brot
leibspeise in bruchstücken

todernst schenkt er uns
reinen wein ein
in ihm ist wahrheit

sein testament
alles für uns
mit seinem blut unterschrieben

andenken an
eine große liebe
gegen den gedächtnisschwund

grundlage
einer stiftung
für mehr leben

Der Priesterpoet Andreas Knapp (Heller als Licht. Biblische Gedichte, Würzburg 2014, 69) bringt es auf den Punkt. Was wir heute begehen, das ist die „Stiftung für mehr Leben“, in die Jesus sein ganzes Vermögen eingebracht hat. Im Brot und im Kelch hat er alle menschliche Last und Mühe, alle Bedrückung und Gefährdung des Lebens durch äußere Not und innere Armut in die Hand genommen; und ebenso den Überschwang der Lebensfreude, den wir genießen, die Hoffnung, die uns Flügel gibt, die Liebe, die uns manchmal überwältigt und verändert. „In seine Hände nahm er alle Liebe der Welt, die verletzte Liebe Gottes für die Welt und die verletzte Liebe der Welt für Gott“ (Marc Kardinal Ouellet). Er nahm, erhob, dankte und teilte aus: sich selber ganz und gar.

Wer eine Stiftung errichtet, trennt sich für immer von seinem Vermögen. So, liebe Schwestern und Brüder, ist es auch mit der heiligen Eucharistie, der „Stiftung für mehr Leben“, die uns zugutekommt. Sie erhält uns am Leben, jetzt und ewig.

Und auch diese Stiftung kennt viele Freunde, Zustifter und freiwillige Förderer; alle, die etwas von ihrem Eigenen hergeben und einbringen, um Leben zu schützen, zu heilen, zu trösten, zu versöhnen und zu bestärken. Die „Heiligen des Alltags“ (wie Papst Franziskus sie gerne nennt) gehören genauso dazu wie die großen Gestalten der Märtyrer und Bekenner. Man muss nicht einmal Christ sein, um mit der „Stiftung für mehr Leben“ zu sympathisieren. Für mich gehört auch die 19-jährige Ma Kyal Sin dazu, die vor vier Wochen beim Protest gegen den Militärputsch in Myanmar ihr Leben verlor. Unter den 38 Todesopfern eines einzigen Tages ist die junge Frau das bekannteste. „Alles wird gut“ stand auf ihrem T-Shirt. Aber sie war nicht naiv. Bevor sie sich den Protesten anschloss, schrieb sie auf Facebook eine Nachricht, in der sie ihre Blutgruppe und das Einverständnis hinterließ, ihre Organe zu spenden, falls ihr etwas zustoßen sollte (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.), 5. März 2021, Nr. 54, 5).

Lebenseinsatz aus Überzeugung. Hingabe aus Dankbarkeit. Dankbares Staunen bewegt mich heute Abend, in dieser Stunde der heiligen Eucharistie. Ich lege es zum Stiftungsvermögen dazu und glaube fest, dass es dem großen Zweck dient: mehr Leben.

04.04.2021; Deutsche Bischofskonferenz; in: Pressemitteilung Nr. 049 von Donnerstag, 01.04.2021, mit dem Titel „Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing zum Gründonnerstag. Eucharistiefeier im Hohen Dom zu Limburg“; https://www.dbk.de/presse/aktuelles/meldung/predigt-von-bischof-dr-georg-baetzing-vorsitzender-der-deutschen-bischofskonferenz-in-der-eucharistiefeier-zum-gruendonnerstag-im-hohen-dom-zu-limburg
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